Politische Kosmologie der Yanomami

Stimmen gegen die Zerstörung

„Vielleicht werden sie am Ende doch noch auf die Bewohner des Waldes hören und beginnen, gerader über sie zu denken?“

Das fragt sich der Schamane, poetische Philosoph und unermüdliche Klimaaktivist Davi Kopenawa am Ende seiner Ansprache in diesem gewaltigen Buch, das er gemeinsam mit dem Ethnologen Bruce Albert geschrieben hat, nicht zu vergessen die kongeniale Mitautorschaft der deutschen Übersetzer Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik.

Es ist wirklich die Frage: Wie können wir gerader über die Indigenen denken? Zumal wir ja bis heute nichts von ihnen gelernt haben und weiter unermüdlich den Amazonas zerstören.

Dabei sind sie im Besitz des Wissens über den Wald, und der Wald ist der universale Kosmos des Lebens.

Eine Aussage im Vorwort der französischen Ausgabe ist entscheidend: „Wir müssen die Indigenen unbedingt ernst nehmen“. Das ist wahr. Die Frage ist also: Wie können wir mit den Indigenen denken? Der Versuch einer Antwort ist das Lebensprojekt von Davi Kopenawa und Bruce Albert. Es ist nichts weniger als ein letzter Versuch zur Rettung der Welt. Und wenn ich mich mit Liebe in diese höchst gefährdete Welt am Amazonas (er ist überall) begebe und „Der Sturz des Himmels“ lese, dann gilt ein einziges Bild: Der Amazonas ist die Lunge der Welt und die Yanomami sind ihr Herz.

Eine andere Form der Annäherung ist die aufmerksame Betrachtung der Art und Weise, wie hier geschrieben und erzählt wird. Es ist eine alte Liaison: Das Sprechen der Indigenen gerät in die merkwürdigen Inkunablen des ethnologischen Textes – Bilderhäute heißen sie bei Kopenawa, und die Ethno-Graphie übernimmt das Ruder im schaukelnden Boot der oralen Kultur. Nein, es ist ganz und gar keine Liaison der Liebe. Es ist das in die wissenschaftliche Sprache fortgesetzte Machtverhältnis von Subjekt und Objekt, in dem der Weiße alles über die Yanomami aufgeschrieben hat, die ihrerseits beobachten, wie er mit großen Augen durch ihre Welt geht – aber GESEHEN er hat sie nicht.

Das ist eine präzise Beobachtung von Davi Kopenawa. Das Sinnbild von der ethnographischen Blindheit für das Eigentliche des Anderen gilt für alle Kulturgeographien des ethnologischen Projektes. Und natürlich hat unser Mann vom „Volk der Waren“ keine Augen für die xapiri-Geister und ihre Gesänge, die das wirkliche Alphabet sind, das tanzende Alphabet des Amazonas. Ein amerikanischer Kollege von Bruce Albert, der Anthropologe James Clifford erfasst die Fragen der Beziehung von Ethno-Graph und Ehtno-Quelle in einer paradigmatischen Chiffre: Writing Culture!

Neuartig war seinerzeit, wissenschaftliche Methoden und strategische Ansätze der Anthropologie in literarischen Analysen ihrer Schreibweisen zu erklären. Heute hat die postkoloniale Literatur das Thema längst kanonisiert – The Empire writes back!.

– Wer schreibt für welche Kultur? Was ist Wissen? Wo bleibt die Wahrheit des gesprochenen Wortes? Wie kommt der orale Text zu seiner Geltung? Davi Kopenawa hat seine eigene, eine souveräne und freie Antwort gefunden. „Ich möchte den Weißen diese Dinge erklären, denn sie sollen wissen.“ Weil es Irrlichter und Irrtümer sind, die anmaßenden Worte auf jenen dünnen Bilderhäuten, auf denen machtbesessen die Geister der Weißen tanzen. Ein großes Versprechen in unserer dunklen Krise. Kann ein Yanomami uns die Dinge erklären? Kann ein Leuchtfeuer aus dem amazonischen Hoffnungsschimmer werden?

Politische Kosmologie des Waldes

Mit diesem Buch ändert sich der prekäre Status der anthropologischen Ungleichheit. Was Bruce mit Kopenawa auf die Bilderhäute unserer Schriftkultur bringt, ist ein kollaborativer Text der Rehabilitation. Es ist eine Geradestellung, um im Bild jener geraden Worte zu bleiben, die sich Davi Kopenawa wünscht: Ein geistiger Akt der Aufrichtung, die Heilung der pathogenen Schiefstellung im Kulturkontakt, die politische Kosmologie der Yanomami in ihrem Wald. Aber sie hat zwei Komponenten, die ihre Welt mit der unseren verbindet: Die eine ist das Dokument einer kollaborativen Geschichtserzählung, jenseits der autochtonen Mythenfabrikation und ihrer Ethno-Graphie; die andere ist die Kooperation und Komplizenschaft des Anthropologen mit dem politischen Kampf der Yanomami, jenseits der literarischen Ego-Graphie. 

„Der Sturz des Himmels“ ist zunächst eine Wiederaufrichtung, indem wir verstehen müssen, wie konkret und was das Wissen des Schamanen ist, wie radikal und bewusst er sich vom Diskurs der Weißen absetzt und wie entschieden er den Kampf gegen die mörderischen Eindringlinge in den Wald anführt. Im Gleichschritt mit dieser inneren Entwicklung des Schamanen zum politischen Subjekt erfolgt schließlich die Abkehr des Anthropologen Bruce von seinem wissenschaftlichen Vertrag, der ihm immer deutlicher als Verrat erscheint, als Kollaboration im imperialistischen Projekt.

Ich glaube, das Geheimnis dieses Werkes, das auf eine erneuerte Macht des Waldes hofft, ist der Gleichtakt einer Erkenntnis des Gegenüber im jahrzehntelangen Projekt gemeinsamen Schreibens. Dieses grandiose Buch ist Symbiose und Abenteuer eines offenen Geistes, der in der Gleichzeitigkeit des Anderen das Sprechen über das Gemeinsame möglich macht. Und auf eine geheimnisvolle Weise wird diese neue Wissenschaft zu Literatur, der Wald schreibt zurück.

Davi Kopenawa/Bruce Albert: Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen. Deutsch von Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz 2024