Amerika hast du es besser?

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DEMOKRATIE AM ABGRUND- so sehen zwei derzeit noch solide über dem Abgrund stehende amerikanische Akademiker (als solche stabil versorgt) das Problem mit der Demokratie in Amerika. In ihrem Buch über die Tyrannei der Minderheit beschreiben STEVEN LEVITSKY und DANIEL ZIBLATT, wie elitäre Eiten immer schon dafür gesorgt haben, dass der Wille der wählenden Mehrheit systematisch behindert wird. Sehr genau erklären sie aktuelle Methoden der Wahlrechtsänderungen oder die historische des Filibusters, mit dem im Senat dafür gesorgt wird, dass unerwünschte Gesetzesvorlagen der Mehrheitspartei nicht wirklich Gesetz werden können.

Ich habe mir die Formel „Bauernklausel“ eingeprägt. Mit einer solchen sorgte einstmals die zweite demokratische Verfassung der Welt, die norwegische (wo man nach 4 Jahrhunderten dänischer Herrschaft in Amerika natürlich die bessere Welt erblickte), dafür, dass die städtischen Eliten nicht von der Mehrheit der Landbevölkerung übertrumpft werden konnten, schlicht indem sie den Wert einer städtischen Wählerstimme verdoppelten. Ich glaube, man kann heute von einer amerikanischen Bauernklausel sprechen, denn in den Vereinigten Staaten stammt jetzt die Mehrheit der Wähler nicht mehr aus dem weißen protestantischen Milieu, und so muss sich dieses Mileu etwas überlegen. Die Autoren beschreiben, wie sich zum Beispiel neue Wahlrechtsgesetze in republikanischen Südstaaten exakt gegen die neue Mehrheit von Einwanderern und schwarzer Bevölkerung richten. Donald Trumps Behauptung, die Wahl sei ihm gestohlen worden, zeigt sich in diesem Licht einmal mehr als eine Taktik der Alternative Facts.    

WIRTSCHAFT AM ABGRUND – Der Einfluss des Handelsriesen amazon ist gigantisch, wie der Titel schon sagt. Das ist wiederum mit Blick auf Donald Trump sehr interessant, denn er ist ein Feind von Amazon, jedenfalls manchmal. Amazon verändert die Struktur der amerikanischen Wirtschaft derart, dass hunderttausende von Kleinhändlern und Kleinunternehmern auf der Strecke bleiben. Und die Gier des Giganten wird so groß, dass er naturgemäß auf dem Weg zu einem Monopol ist. Im wirklich faktengesättigten Buch „Der Gigant“ von DANA MATTIOLI heißt es im Titel noch, wie Amazon die Wirtschaft „verändert“, in Trumps Augen ist der Konzern dabei, die Wirtschaft zu zerstören. Und deshalb, so kündigt er an, werde er das Monopol knacken, so wie einstmal schon das Monopol des Ölmagnaten Rockefeller zerschlagen wurde.

Mattioli, die beim Wall Street Journal in einer speziellen Abteilung für amazon Recherchen arbeitet, hat sehr viel von der Praxis und Ideologie hinter Jeff Bezos Weltkonzern verstanden, Trumps Motive, so schreibt sie, noch nicht ganz. Es könnte sogar sein, dass ihn der persönliche Neid auf den wesentlich erfolg/reicheren Geschäftsmann Jeff Bezos treibt. Die 150 Milliarden Privatvermögen des amazon-Gründers wird er aber nicht antasten können. Ich empfehle das Buch jedem, der/die noch bei amazon einkauft.

AMERIKA IM ABGRUND – Nach einem Vortragsabend im schönen Biesdorf, an dem ich diese und die folgenden literarischen Bücher ausführlicher im Kontext vorgestellt habe, erzählte mir ein Besucher von den wandernden amazon-Arbeiter:innen, die in Trailern durch die Gegend ziehen, die Trailer Force. Das Wandern hat System im System amazon, denn schon Bezos wanderte gern, nämlich in solche Bundesstaaten, wo er keine Verkaufssteuer zu zahlen hatte. Das hat ihm enorme Wettbewerbsvorteile verschafft, und zahllosen kleinen Händlern den Ruin. Es ist ein auf frühere ökonomische Katastrophen aufgesetzter Ruin, das Desaster einer Dauerkrise.

Von dieser Welt erzählen Amerikas Schriftsteller. Und sie stehen nun nicht mehr, wie Bezos oder Amerikas Academia, über oder neben dem Abgrund. Sie stehen im Abgrund selbst, in den die Verhältnisse schon Millionen Amerikaner:innen gebracht haben. Die amerikanische Literatur gibt sie nicht auf, sie findet noch immer überzeugende und berührende Bilder und Protagonisten.

In einigen neueren Fiktionen aus Amerika habe ich einen besonderen Ausdruck dieser Verhältnisse bemerkt, der drastisch zeigt, wie sehr die amerikanischen Autor:innen vom Abwärtssog der Verhältnisse erfasst sind. Sie können nicht anders, sie müssen darüber schreiben. Insbsondere über die spezifisch amerikanische Gewalt in der Zivilgesellschaft, die Waffenfetischismus und freier Verkauf von Schusswaffen erst ermöglichen. Ich habe diese Spur nicht gesucht, sie ist mir bei der kritischen Sichtung zugefallen.

MÜTTER UND MÖRDER – In dem famosen Band „Stories“ von JOY WILLIAMS gibt es eine Geschichte mit dem Titel „Die Mutterzelle“. Es ist vermutlich ein Trailerpark, in dem sich zufälligerweise eine ganze Reihe von Müttern treffen, deren Kinder Mörder oder sogar Massenmörder geworden sind. Nun reden die Mütter über Gott und die Welt und ihre Mörderkinder, die sie an diesen äussersten Rand der Gesellschaft gebracht haben, als könnten sie ein je absurderes Reden gegen eine umso absurdere Sinnlosigkeit setzen. Aber das Spannende daran ist, dass Joy Williams das so aufschreibt, als hätte sie gelauscht. Unnachahmlich, wie mit dem Sezierbesteck geschrieben. Und irgendwie auch ein Wunder der Literatur, dass Joy Williams im Morast aus Beschränktheit, „Bohnenstrohdummheit“, Gewalt und Ignoranz nicht selbst untergeht.              

AMERIKAS HAUS UND HEIMAT. Ganz anders wäre es fast SALMAN RUSHDIE gegangen, als er in persona zum Protagonisten des amerikanischen Alptraums wurde. Ein junger Mann stach ihn mit einem Messer nieder, gerade als Rushdie eine Rede über den Schutz verfolgter Schriftsteller:innen halten sollte. Der Autor kam nur knapp mit dem Leben davon, aber eines hat Rushdie seinem Fastmörder und uns allen gezeigt: Dummheit und Macht dieser unkontrollierten Gewalt sind nicht stärker als die Literatur. Schon ein Jahr nach schwersten Verwundungen kam der Schriftsteller mit seinem Buch „The Knife“ heraus, mit dem er eine Klärung seiner Lage versucht. Einen Hauch davon konnte ich in Berlin erahnen. Bei der Premiere der deutschen Ausgabe standen sechs Security-Leute rund um das randvolle Parterre herum und bewachten uns unablässig mit scharfen Augen. Kein gutes Gefühl im Deutschen Theater, aber Rushdie hat sich auf der Bühne gut amüsiert. Zwiespältig ist von jetzt an der Titel jener Veranstaltungswoche, auf der er damals auftreten sollte: „Mehr als nur eine Zuflucht: Amerikas Haus und Heimat, eine Neubestimmung“.        

EINE NEUBESTIMMUNG VON GEWALT, das scheint in der amerikanischen Literatur derzeit ebenfalls eine Art Zuflucht zu sein: Eine strategische Zuflucht zum metaphorischen Abwehrkampf, Literatur gegen das reale Fiasko. Dieses Fisako, dieser „Sitz der Literatur im Leben“, ist heute virulent als Polykrise: Demokratieverlust und Rechtsruck, Militarismus und Petrokultur, Neoliberalismus und Digitalisierung, Waldbrände, Wirtschaftswachstum, Wassernot und zugleich Flutkatastrophen und immer das Chaos der alltäglichen Gewalt. Der gemeine Bürger hat da bekanntermaßen auch eine Strategie, die Verdrängung.

Genau dies prästiert in einer Shortstory von T.C. BOYLE eine akademisch tätige Dame, die sich mittels Zugfahrt eine mehrtägige Entschleunigung leistet. Es beginnt mit einem Glas Rotwein im Schlafwagen, einem komfortablen Safe Space der weißen Mittelklassefrau. Doch dann trifft sie im Speisewagen einen Studenten, der sie in eine ganz fatale Beziehung zur Welt versetzt. Am Anfang lässt die Ich-Erzählerin wissen, der Typ trage ein T-Shirt mit der Aufschrift INCEL, sie aber hat keine Ahnung, was INCEL bedeutet. In fortlaufenden Gesprächen erzählt Incel nun, dass er einen Massenmörder persönlich kannte, der kürzlich sechs Studentinnen erschossen hat. Und jene Empathie, die die Dame dem etwas verstörten jungen Mann durchaus entgegenzubringen vermag, verwandelt sich zusehends in eine Empathie seinerseits, aber nicht für sie, sondern für den Frauenmörder. Was lernen wir aus dem literarischen Einzelfall?: Falsches Mitleid ist nicht gleich Empathie.

T.C. Boyle ist ein Meister des prekären amerikanischen Charakters und der raffinierten Perspektive. TOMMY ORANGE dagegen, ein jüngerer Autor vom Stamm der Cheyenne und Arapaho, ist ein literarisches Sprachrohr des kollektiven Subjektes. In seinem Generationen-Roman „Verlorene Sterne“ entfaltet er eine lange Kette von Schicksalen. Die Figuren stehen im Gegenlicht einer besonderen Geschichte der Gewalt in Amerika – dreihundertdreizehn Jahre Indianerkriege. Hier beginnt alles mit einem Massaker in einem Cheyenne-Dorf, dem Victor Bear Shield, das erste Glied der Kette, gerade noch entkommt. Aber Victor gerät in die Welt der Weißen und wird zum Trinker. Auch alle Nachkommen finden Zuflucht in Drogen, mit Laudanum bis Heroin wird das Gefühl des Fremdseins im eigenen Land betäubt.

Die sechste Generation mit Orvil Red Feather schließlich landet bei einer Pille namens Blanx. Aber bevor Orvil das Blanx entdeckt, arbeitet er sich an seinem persönlichen Trauma ab: „Er wollte sich wieder normal fühlen. Wie vor der Schießerei…“ Orvil war zufällig in diese Schießerei geraten und hat jetzt ein sternförmiges Kugelfragment im Körper. Doch während er davon träumt, sich endlich einmal Ganz zu fühlen, weist ihn das Sternenfragment in seinem Körper zurück zu den Verlorenen Sternen – zum kollektiven Trauma der Ureinwohner. Das ist seine Heimat in Amerika, in der es nicht mehr möglich ist, sich ganz zu fühlen. Es gibt kein Leben vor der Schießerei.