Multiple Identitäten

Die Immigranten-Literatur in der Neuen Welt

Wie Asien-Amerikaner die amerikanische Literatur erneuern

In der nordamerikanischen Literatur der Gegenwart macht sich ein allgemeines Phänomen unserer Zeit besonders bemerkbar, die Immigranten-Literatur. Immigration ist die DNA der Amerikaner, allein in den letzten zweihundert Jahren hat das Land mehrere große Wellen von Immigration erlebt. Immigranten haben die demografische und kulturelle Situation immer wieder stark verändert, und im 20. und 21. Jahrhundert sind dies – neben den Hispanics – insbesondere die Asien-Amerikaner.

Von Martin Zähringer und Jane Tversted

Die Neuen Immigranten aus Asien konnten sich erst relativ spät in den USA etablieren, denn die meisten Asiaten waren per Immigrations Gesetz von 1924 – auch als Asian Exclusion Act bekannt – von der Einwanderung ausgeschlossen. So kam die Mehrzahl der Asien-Amerikaner erst nach 1965, als der Hart-Celler Immigration Act die rassistische Einwanderungspolitik entschärfte. Von den 20 Millionen Immigranten seit dieser Zeit sollen bis zu 40% Asiaten sein. Sie kommen aus China, Indien, von den Philippinen, Indonesien, Korea, Vietnam und Thailand und leben vor allem an der Westküste und in New York. Die Asien-Amerikaner haben großen wirtschaftlichen Einfluss, sind in der Öffentlichkeit präsent und streben in die Sphären der kulturellen Repräsentation. In der Literatur sind sie mit einer vielfältigen Produktion vertreten.

Fragmentierte Geschichte

Einer der bekanntesten Immigranten-Autoren ist Chang-rae Lee, der im Alter von drei Jahren mit seinen koreanischen Eltern nach Amerika kam. Er hat bis jetzt vier Romane geschrieben und unterrichtet an der Princeton University Creative Writing. In Lee’s neuem Roman „The Surrendered“ geht es darum, wie Kriegserlebnisse die Menschen ein Leben lang zeichnen. Sein Beispiel ist der Korea-Krieg von 1950-1953. Hauptfiguren sind eine fiktive Korea-Amerikanerin und ein Amerikaner, aber Lee lässt auch Erlebnisse seines eigenen Vaters in den Roman einfließen. Die Erzählung ist auf vielfache Weise fragmentiert, indem zwischen mehreren Handlungsräumen – China, Korea, Amerika und Europa, Erzählperspektiven und Zeiten gewechselt wird. Die Zusammenhänge erklären sich erst nach und nach, so dass die eigentlich tragische Geschichte wie ein Spannungsroman zu lesen ist.

The Surrendered“ ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt. Dafür ist von Chang-rae Lee zu empfehlen: „Fremd im eigenen Leben“ – ein japanischer Immigrant in Queens/New York wird mit der Geschichte der koreanischen „Trostfrauen“ im Zweiten Weltkrieg konfrontiert, und „Turbulenzen“ – aus der Sicht eines italienischen Einwanderers wird die Lebenswelt Amerikas erforscht, mit der sich besonders seine beiden Kinder auseinander zu setzen haben – deren Mutter war eine Koreanerin.

Scharfer Fokus auf Verdrängtes

Die Beschäftigung mit Themen und Figuren anderer Nationalitäten oder Rassen zeigt, dass Immigranten-Autoren mehr als literarische Zeugen ihrer eigenen minoritären Ethnie sind oder sein wollen. Susan Choi nimmt sich in ihrem zweiten Roman „American Woman“ einer wenig populären Geschichte der amerikanischen Counterculture an. Zum realen Hintergrund dieser amerikanischen Geschichte gehört die revolutionäre „Symbionese Liberation Army“ (SLA).

Spektakulär war die Entführung der Verlegersenkelin Patty Hearst, die sich später der Gruppe angeschlossen hatte. Sie wurde bei ihrer Verhaftung zusammen mit der japanisch-amerikanischen Aktivistin Wendy Yoshimura aufgegriffen, und diese wenig bekannte Aktivistin macht Choi nun zur Hauptfigur ihres spannenden Romans. Zugleich dient sie der Erinnerung an eine andere verdrängte Geschichte – die Generalverdächtigung und Internierung aller in Amerika ansässigen Japaner nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour.

Die Grand Old Lady der chinesisch-amerikanischen Literatur ist Maxine Hong Kingston. Das einzige übersetzte Buch von ihr ist noch antiquarisch zu haben (Die Schwertkämpferin, 1983). Für „China Men“ erhielt die Literaturwissenschaftlerin und Feministin 1981 den National Book Award. Dieser Klassiker über die Chinesen in Amerika machte ihren besonderen Stil der creative nonfiction berühmt. Mit dieser performativen Technik gelingt es der Autorin – zum Beispiel in erfundenen Dialogen, die literarische Qualität des Möglichen elegant in den Aufriss ihrer familiären Genealogie einzubringen.

Das universale Subjekt

Das ästhetische Pendeln zwischen Fakt und Fiktion ist für die Immigranten-Ästhetik besonders interessant, da es die Potentiale der jeweils abwesenden Kultur in die Geschichte einbringt. Heutzutage ist die vermisste Nähe zur Herkunftskultur oft nur noch eine Frage von Internet und Billigfliegerei. Das hat auch das Selbstwertgefühl der Immigranten verändert. Denn wo sie sich früher stark gegen die jeweilige Mehrheit abgegrenzt sahen – die einzige Option war Assimilierung auf Kosten eigener kultureller Werte und Traditionen, da sehen sich heute viele eher als Teil einer globalen Minorität der Immigranten. Und diese hat universalen Charakter.

In New York wird die Minorität asiatischer Herkunft (immerhin fast 13% der Bevölkerung) von einem Kulturverband vertreten, der auch solidarische Aktionen an der mexikanischen Grenze unternimmt, wo die Lage der Immigranten sehr schwierig geworden ist (www.wordstrike.net). Der Asien American Writers Workshop ist eine Schreibwerkstatt, Lobbyorganisation und Veranstalter von literarischen Events, derzeitiger Leiter ist der chinesisch-amerikanische Lyriker Ken Chen. Er sieht fast einen universalen Zug im Typus der Asien-Amerikaner:

„Was wir als die asiatisch-amerikanische Identität betrachten, ist ein Weg, die der globalisierte Bürger überall geht. Es gibt sehr viele Südasiaten, Chinesen, Japaner, Ostasiatische Intellektuelle, die zwischen Dheli, Seoul, Bejing, Shanghaj, New York, London und Berlin hin und her wandern. Deshalb bringt die asiatisch-amerikanische Identität eine ganz besondere Sichtweise mit sich, die zeigt, was die ungreifbar-multiple Identität heutiger Immigranten ausmacht.“

Djumpha Lahiri aus Brooklyn führt dies in ihrer Erzählung „Einmal im Leben“ aus. Es beginnt in der Jugend einer Asien-Amerikanerin aus Bengalen mit den üblichen Plagen der Assimilierung – bin ich Amerikaner oder Inder? Was will ich sein, was kann ich sein? Ist es peinlich, noch mit 14 Jahren im Zimmer der Eltern zu schlafen…? – und im Erwachsenenleben geht es noch immer um die Aufhebung der Widersprüche. Was sich anbietet, ist der genannte kosmopolitische Lebensstil. Der aber taugt für die Liebe offensichtlich nicht: Der Schwarm der Erzählerin aus der amerikanischen Jugend ist ein weltreisender Fotograf geworden, den sie zufällig in Rom wiedertrifft. Nach einer heißen Affäre entschwindet er leider auf dem Weg zu seinem ersten festen Job in den Fluten des Tsunami.

Das Eigene und das Nicht-Eigene

Die asien-amerikanische Literatur beginnt mit frühen Vorläufern wie Lee Yan Phou „When I Was a Boy in China“ (1887), Etsu Sugimoto „Daughter of the Samurai“ (1929) oder New Il-Han „When I was a Boy in Korea“ (1928). Die Titel sprechen für die Intentionen dieses Erzählens, in der akademischen Expertise nennt man es die autoethnographische Tradition.

Ha Jin, ein asien-amerikanischer Zeitgenosse, der nach dem Massaker auf dem Tienanmen 1989 nicht mehr nach China zurückging, hat noch vor kurzer Zeit auf diese Tradition zurückgegriffen, als er seinen ersten Roman über die Erfahrung der Immigration schrieb (Ein freies Leben). Er protokolliert in allerfeinster Detailgenauigkeit, was es bedeutet, die völlig neue amerikanische Umwelt zu entziffern, sich in ihr zurechtzufinden und zu behaupten.

Zuvor war Ha Jin allerdings schon als Autor von Romanen berühmt, die ganz ähnlich wie bei Chang-rae Lee, historische Themen durch die Linse einer zersplitterten Immigrantenseele sichtbar machen. „Kriegspack“ (2005) ist eine spannende Geschichte in den historischen Zerklüftungen des Koreakriegs, den hier ein chinesischer Freiwilliger durchlebt. Er stößt dann in amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf sein kulturelles und politisches Schicksal.

Ken Chen hat bemerkt, dass diese Art von Geschichtsinterpretation vom „eigenen“ Thema ablenken könnte, dem des Lebens und der Emanzipation der Asian-Americans in den Vereinigten Staaten. Das gilt auch für Yiyun Li, wenn sie in brillianten Kurzgeschichten – in englischer Sprache – originär volks-chinesische Lebenswirklichkeiten der Gegenwart beschreibt (Tausend Jahre frommes Beten), oder in ihrem großen antikommunistischen Roman „Die Sterblichen“ den Amerikanern die Kulturrevolution erklärt – in erwartbarer Ideologie.

Metropolis New York

Vielleicht entdeckt ein Übersetzer oder Verlag doch noch die ambitionierte Schriftstellerin Jessica Hagedorn. Deren Initiative zielt genau dahin – die Asien-Amerikaner im allgemeinen Bewußtsein präsent zu machen. Die Künstlerin kam mit ihren Eltern von den Phillipinen und war auch als exaltierte Punkmusikerin bekannt. Ihr berühmter Roman „Dogeaters“ repräsentiert aber doch eine „Urgeschichte“ oder Ursprungskultur – eine junge Frau wird dort dem Erinnerungsfeuerwerk an das Leben in Manila ausgesetzt.

In Jessica Hagedorn neuem Roman „Toxicology“ von 2011 geht es jetzt um das Szeneleben in New York, und die New Yorker Asien-Amerikaner sind auch anderweitig interessant. Demnächst wird ein Gedichtband von Jeffrey Yang bei Berenberg erscheinen sowie ein Erzähldebüt von Rajesh Parameswaran bei Kiepenheuer & Witsch. Und in dieser Saison kann schon einmal auf den Roman „Die überaus talentierte Miss Hempel“ von Sarah Shun-lien Bynum bei S. Fischer verwiesen werden.

Chang-Rae Lee: The Surrendered. Roman, Riverhead 2010. 469 Seiten

Derselbe: Fremd im eigenen Leben. Roman, übersetzt von Marcus Ingendaay, Kiepenheuer & Witsch 2005. 394 Seiten

Derselbe: Turbulenzen. Roman, übersetzt von Christa Schuenke, Kiepenheuer & Witsch 2004. 440 Seiten

Susan Choi: American Woman. Roman, Harper Collins 2003. 369 Seiten

Maxine Hong Kingston: Die Schwertkämpferin. Roman, übersetzt von Gisela Stege, Ullstein 1983. 238 Seiten

Dieselbe: China Men. Roman, Knopf 1980. 308 Seiten

Jumpa Lahiri: Einmal im Leben. Roman, übersetzt von Gertraude Krueger, Rowohlt 2008. 174 Seiten

Dies. Fremde Erden. Deutsch von Gertraude Krueger. Rowohlt 2010,303 Seiten

Ha Jin: Ein freies Leben. Roman, übersetzt von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck, Ullstein 2008

Derselbe: Kriegspack. Roman, übersetzt von Susanne Hornfeck, Deutscher Taschenbuch Verlag 2005. 455 Seiten

Yiyun Li: Tausend Jahre frommes Beten. Erzählungen, übersetzt von Anette Grube, Hanser 2011. 223 Seiten

Dieselbe: Die Sterblichen. Roman, übersetzt von Anette Grube, Hanser 2009. 378 Seiten

Jessica Hagedorn: Dogeaters. Roman, Pantheon Books 1990. 251 Seiten

Dieselbe: Toxicology. Roman, Viking Adult 2011. 240 Seiten

Sarah Shun-lien Bynum: Die überaus talentierte Miss Hempel. Roman, übersetzt von Andreas Hechmann, S. Fischer Verlag 2012. 240 Seiten

Louis Mendoza und S. Shankar (Hg.): Crossing into America. Anthologie mit Einführungen, The New Press 2003. 353 Seiten